Die Schatten des Morgenlandes by Carsten Stormer
Autor:Carsten Stormer [Stormer, Carsten]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2017-03-17T16:00:00+00:00
Kapitel 14: Die Weißhelme
Die Weißhelme sind eine Art Zivilschutz aus etwa hundert Freiwilligen. Alles Zivilisten, keine Kämpfer, keine Waffen. Ihre Aufgabe ist es, nach Bombenabwürfen Tote, Verletzte und Verschüttete aus den Trümmern zu bergen. Sie sind Feuerwehr, Bergungsmannschaft und Rettungssanitäter in Personalunion. Finanziert werden sie von internationalen, oft islamischen Hilfsorganisationen aus Europa, den USA und muslimischen Nachbarländern. Seit die syrische Armee auch die Dörfer und Kleinstädte außerhalb Aleppos und in anderen Provinzen bombardiert, haben sich auch dort Weißhelm-Einheiten gebildet.
Die Weißhelme gehören zu einer wachsenden Minderheit junger Revolutionäre. Anstatt auf Menschen zu schießen, übernehmen sie Aufgaben des Gemeinwesens, verwalten das Chaos. In Aleppo gibt es weder Strom noch fließendes Wasser. Niemanden, der den Müll abholt. Es mangelt an Ärzten, Medikamenten und Nahrungsmitteln. Krankenhäuser und Schulen sind zerstört. Ein ganz normales Leben ist unmöglich geworden. Menschen wie Khaled Hajo versuchen die Lücken zu füllen, die der Krieg hinterlässt.
Khaled ist der Chef der Weißhelm-Einheiten in Aleppo. Ich treffe ihn im Innenhof seines Hauptquartiers im Frontviertel Hanano. Dort sitzt er gemeinsam mit Ahmed auf Plastikstühlen und fragt sich, wie viele Menschen sie heute sterben sehen werden, wie viele sie retten können. Ein Hubschrauber der syrischen Armee kreist über uns. Die beiden haben den Kopf in den Nacken gelegt und suchen den Himmel ab. Ahmed, den sie al-Tawil, den Langen, nennen, weil er hochgeschossen und dürr wie eine Stange Zuckerrohr ist, hat sich eine Zigarette angezündet, an der er kräftig pafft. So als könne er damit die Nervosität vertreiben, die ihn immer dann befällt, wenn die Hubschrauber am Himmel auftauchen. Um sie herum: Ruinen, zerschossene Fassaden, gespickt mit Einschusslöchern, eingestürzte Stockwerke, Schuttberge, ausgebrannte Geschäfte.
»Khaled, meinst du, dass der angreift?«, fragt der Lange und zeigt auf einen Punkt am Himmel, der in der Morgensonne silbern strahlt.
»Hmm«, brummt Khaled, kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Das Hauptquartier der Weißhelme ist ein ehemaliger Abschleppplatz der syrischen Verkehrspolizei im ausgebombten Frontviertel Hanano. Ein paar Toyotas, die von ihren Besitzern nicht abgeholt werden, rosten im Hof vor sich hin. Am eisernen Eingangstor stehen zwei Männer Wache und beobachten den Himmel. Die ständige Gefahr hat Fremde zu Freunden gemacht. Zwischen den Bombenangriffen sitzen sie in einem der beiden Zimmer, das als Einsatzzentrale, Aufenthaltsraum und Schlafzimmer dient. Auf dem Boden liegen fleckige Matratzen, in einer Ecke steht ein Fernseher, ein Deckenventilator verquirlt die heiße Luft. Strom kommt aus einem Generator.
Noch immer kreist der Hubschrauber wie ein bedrohliches Insekt über uns. »Natürlich greift er an«, sagt Khaled. Nur wo die Fassbombe einschlagen und was sie treffen wird, ist unklar. Vielleicht im Stadtteil Sakhur, vielleicht aber auch in Tarik al-Bab oder im Shaar-Distrikt. Oder genau hier. Es wäre nicht das erste Mal. Der Tod schlägt wahllos zu und das überall.
Während die beiden in den Himmel starren, neigt sich der Rumpf des Hubschraubers leicht zur Seite, ein schwarzer Gegenstand kullert aus der Seitentür und trudelt durch die Luft. Ein lautes Summen durchschneidet die Stille, als würde sich ein Schwarm riesiger Hornissen auf die Stadt stürzen.
»Fassbombe!«, ruft Khaled und wirft sich auf den Boden. Sekunden später folgt ein ohrenbetäubendes Krachen.
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